Kreuzfahrten Teil 1 – Reviere in Nordeuropa
Rund 400 Kreuzfahrtschiffe im internationalen Markt erscheinen einem Greenhorn zunächst als undurchdringlicher Angebotsdschungel. Stellt man sich selbst ein paar kritische Fragen zu den eigenen Reisevorlieben, bleibt jedoch meist nur eine Handvoll zur Auswahl übrig.
Nah oder fern?
Ist auch ein kombiniertes Paket aus Kreuzfahrt und Fluganreise in Ordnung? Auch mit einem Überseeflug? Dann kann es sein, dass in der Endsumme die Flüge mehr kosten als die eigentliche Kreuzfahrt. Ohne Flug erreichen lassen sich deutsche Abfahrtshäfen sowie per PKW oder Bus die Häfen an der französischen und italienischen Mittelmeerküste (zwei Tage Busfahrt mit Zwischennacht). Die Zahl der Busanreisenden lässt übrigens Rückschlüsse auf das Publikum an Bord zu – First-Class-Reisende tun sich die Bustour meist nicht an.
Warm- oder Kaltwasserziel?
In der anstehenden Sommersaison haben Ziele in Europas Norden Hochkonjunktur. Wer aber im Pool oder im Meer baden will oder mit Kindern reist, wird das Mittelmeer, die Karibik, den arabischen Golf oder noch fernere, exotische Traumziele ansteuern wie den Indischen Ozean oder die Südsee. Des Deutschen liebste Fahrtgebiete sind die, die er von deutschen Abfahrtshäfen (Bremerhaven, Hamburg, Kiel oder Warnemünde) erreichen kann. Dabei gibt es Reisen mit Schwerpunkt auf Kultur (z. B. Städtetouren) oder Natur (z. B. Arktis). Unsere diesmaligen Kreuzfahrtbeispiele (Fahrtgebiete und konkrete Reisetipps, siehe Folgeseiten) sind für den Sommer gemacht und fokussieren sich auf den Norden Europas.
Deutsch oder international?
Nur der deutsche und der britische Kreuzfahrtmarkt haben Flotten, die auf die eigene Nation zugeschnitten sind und kaum von Ausländern gebucht werden. Für deutsche Kreuzfahrer macht vor allem die Bordsprache den Unterschied: Selbst der philippinische Kabinensteward kennt die für seine Arbeit relevanten Grundbegriffe. Viele internationale Schiffe werben zwar damit, dass sie deutschsprachige Menükarten und Tagesprogramme bereitstellen; und sicher wird der Passagier auf das gewünschte Gericht zeigen können doch was hat er von einem Sportkurs, einem Vortrag über den nächsten Hafen oder einem Quiz im Escaperoom, wenn er kein Wort versteht? Grundsätzlich liegt die Crux noch woanders: Eine Kreuzfahrt ist eine Gesellschaftsreise, auf der man sich bei Tisch, an der Bar, an der Reling oder im Jacuzzi verplaudert. Wer die Sprachbarriere nicht bedenkt, begibt sich im Urlaub in Isolation.
Großes oder kleines Schiff?
In vielen Fällen hängt das vom Fahrtgebiet ab. Wer Grönland ansteuern, die Azoren oder die Kapverden intensiv bereisen will, wird bei einem kleinen Schiff landen. Die Anlandung von mehreren tausend Passagieren würde die Zielregion überfordern. Bei Zielen im Mittelmeer oder in der Ostsee nützt es in Bezug auf die »unberührten« Reiseziele, die wir so gerne sähen, meistens nichts, ein kleines Schiff zu buchen, wenn bei unserer Ankunft schon drei Megaliner am Pier liegen und zehntausend Passagiere die Altstadt von Dubrovnik oder die Insel Santorin bevölkern. TIPP Weit außerhalb der Saison fahren, z. B. im November oder Dezember. Auch kleine Kreuzfahrtschiffe (100–300 Passagiere) haben ein oder mehrere Restaurants, einen Spa-Bereich und komfortable Kabinen. Sie werden von denjenigen bevorzugt, die interessante Ziele erreichen und möglichst an Land ihre Zeit verbringen wollen. Oft sind sie auf denselben Routen unterwegs wie die großen, laufen aber andere Ziele an, z. B. Menorca statt Mallorca, Syrakus statt Palermo. Oder sie bereisen Entdeckerrouten auf dem Amazonas, in der Antarktis oder bezwingen die legendäre Nordwestpassage. Oft besteht die Abendunterhaltung dann nicht aus Show oder Musik, sondern aus populärwissenschaftlichen Vorträgen über die nächsten Reiseziele – von Biologie über Politik und Geschichte bis Soziologie. Sogenannte Explorerschiffe haben meist eistaugliche, motorisierte Großschlauchboote an Bord, sogenannte Zodiacs, mit denen sie ohne Weg und Steg überall anlanden können. Zodiacfahren ist einfach, mit einem großen Schritt (und zwei starken helfenden Matrosenarmen) ist man im Boot, es ist absolut ungefährlich und bringt mächtig Spaß! Das alles gib’s bei den Granden der Branche nicht. Hier geht es vielen Gästen vor allem um das Erlebnis an Bord. Wer mit mehreren Tausend Passagieren fährt, hat eine so gigantische Bespaßungsmaschinerie an Bord, dass die Reiseziele zur Nebensache werden. Das sollen sie auch, denn die Kalkulation von Kreuzfahrten ab 399 Euro pro Woche geht nur auf, wenn die Passagiere ihr Geld möglichst an Bord ausgeben. Meistens klappt das auch. Ein gelegentlicher Blick aufs Bordkonto sei allen Konsumfreunden in Urlaubslaune dringend empfohlen!
Welches Schiff, welche Kabine?
Neben der Größe spielt auch die Klientel eine Rolle, mit der man reist. Möchte man auf einem kleinen Luxusschiff mit gutsituierten Passagieren siebengängig dinieren, zu jedem Gang den passenden Wein bekommen und kultiviert plaudern? Oder soll es eher ein lockerer Urlaub sein, bei dem wie bei AIDA auch Supermarktkassiererin und Automechaniker in der Buffetschlange stehen? Abgesehen von der gesellschaftlichen Orientierung gilt: Immer das beste Schiff, das man sich leisten kann, auswählen und in der Kabinenkategorie ein Stück nach unten rücken, nie umgekehrt. Die unterste Kategorie eines Luxusliners ist nicht selten besser ausgestattet als das Fürstengemach auf einem Billigschiff – mitgeliefert aber werden Unterhaltung, Service und Küche in bester Qualität. Viele Reisende, die sich für eine Balkonkabine entscheiden, nutzen den Balkon nie, sondern möchten nur die Tür nachts öffnen können, um frische Luft zu haben. In Kabinen mit Fenster oder Bullauge ist dieses i. d.R. nämlich nicht zu öffnen; für »Frischluft« sorgt die Klimaanlage. TIPP Einige Reedereien haben vorn oben einen abgeriegelten Luxusbereich: eigener Pool, eigenes Restaurant, Extra-Lounge mit grandioser Aussicht, Butler-Service (z. B. »MSC Yacht Club« von MSC, »The Haven« von Norwegian Cruise Line). Das Niveau echter Luxusjachten erreichen diese Special Areas zwar nicht, sie kosten aber auch nur ein Drittel davon.
Das richtige Fahrgebiet für die Kreuzfahrt
NORWEGEN: DER ZAUBER DES FJORDLANDS
Die Reedereien Havila und Hurtigruten bieten die Reise an. Doch Vorsicht: Selbst in den touristisch relevanten Orten ist der Aufenthalt (zu) kurz, die Nebenkosten sind zudem sehr hoch. Eine »echte« Kreuzfahrt bringt die Passagiere gezielt dorthin, wo es sich lohnt: in die alte Hansestadt Bergen, in die lieblich-verspielte Inselwelt der Lofoten, in die kleine Universitätsstadt Tromsø und ans Nordkap. Der Clou sind Kreuzfahrten, bei denen die alte Postschiffroute kopiert wird und Zeit zum Sightseeing bleibt. Wichtig: Achten Sie darauf, dass Ihr Schiff im Norden Norwegens die Innenpassagen befährt – sonst gibt’s von der Landschaft nichts zu sehen!
Unser Reisetipp»MS Deutschland«****, 14 Tage »Auf den Spuren der Postschiffe bis zum Nordkap«, ab € 2.799* (ab 22.8. von Bremerhaven, Phoenix Reisen, www.phoenixreisen.com). Besonderheiten: Kleines Schiff (ca. 500 Passagiere), sehr gute Abendunterhaltung, Lektoren, besondere Ziele
AZOREN: NEWCOMER IM ATLANTIK
Nicko Cruises mit der brandneuen »World Voyager« hat sich die Inselgruppe intensiv vorgeknöpft – kein Wunder, der Mutterkonzern sitzt in Lissabon, da liegen die zu Portugal gehörenden Azoren einfach nahe. Liebliches, grünes Hügelland mit Hortensienhecken, gekrönt von Vulkankratern, prägt die Inseln, schöne Kolonialbauten die Städte. Neun bewohnte Azoreninseln gibt es. Bei einer Ausdehnung des Archipels von über 600 km hat jede Insel ihre eigene Kultur entwickelt. Es lohnt sich daher der Besuch jeder einzelnen – fast nur mit dem Schiff umzusetzen.
Unser Reisetipp »MS Hanseatic Spirit«***** 13 Tage »Azoren-Hoch und Inselglück«, ab € 6.600* ab Porto (ab 22.9., Hapag-Lloyd Cruises, www.hl-cruises.de). Besonderheiten: ganz neues Schiff (Taufe 24.8.2021), nur für Erwachsene, Balkone mit Glasboden an Deck, Wissenschaftszentrum mit Mikroskopen etc. für die Passagiere, Buffetrestaurant mit Außenterrasse.
GROSSBRITANNIEN: EINMAL RUND UMS KÖNIGREICH
Achtung: Zu frühe Reisetermine (z. B. im Mai) verheißen im Norden Kälte und oft schlechtes Wetter. Wird Newcastle angelaufen, lohnt sich – besonders mit Kindern – der Ausflug nach Beamish Park (ca. 30 Autominuten), einem Freizeitpark, wo das ganze 19. Jh. wieder auferstanden ist (Bauernhof, Mine, Bergarbeitersiedlung) plus Kleinstadt von 1913 mit zweistöckigen Straßenbahnen, Autowerkstatt, Tante-Emma-Laden und Bonbon-Fabrik. Von Edinburgh aus lohnt eine Fahrt ins nahe Leith (die Städte gehen ineinander über), wo die ehemalige königliche Jacht »Britannia« besichtigt werden kann. Glücklich ist, wer einen Tag in St. Mary’s (Scilly-Inseln) im Programm hat; das mediterrane Flair der Insel und das winzige Städtchen, wo Charles und Camilla einen Ferienwohnsitz haben, sind bezaubernd.
Unser Reisetipp »MS World Voyager«*****, 15 Tage »Landschaften wie im Bilderbuch. Schottland. Irland. England.«, ab Kiel, ab € 4.479* (ab 11.8.2022, Nicko Cruises, www.nicko-cruises. de). Besonderheiten: Reisen im kleinsten Kreis (200 Passagiere), neues Schiff (2020 fertiggestellt), die Orkney-Inseln und die Hebriden stehen auf dem Fahrplan, Restaurant mit Terrasse auf dem Achterdeck, Kabinen mit versenkbaren Fenstern für Frischluft, Zodiac-Schlauchboote an Bord, Expeditions-Charakter.
KANALKÜSTE: CHARMANTE STÄDTE AM KANAL
Die Hauptstädte an der Ostsee: Kopenhagen, Oslo, Amsterdam, London, Brüssel, Dublin, Paris und Lissabon. Oft aber sind dafür mehrstündige Busfahrten erforderlich, z. B. von Le Havre nach Paris oder von Dover nach London. Daher lohnt es sich manchmal mehr, in der Region um den Hafen zu bleiben. Antwerpen ist selbst ein lohnendes Ziel (Diamanten-Museum), ebenso wie Brügge oder Gent. Von Le Havre fährt man ins nahe mittelalterliche Fischer- und Künstlerstädtchen Honfleur, in die mondänen Seebäder Deauville und Trouville und bestaunt die Kreideküste von Etretat. In Southampton lockt das Museum mit einem großen Teil über die »Titanic«, die 1912 hier auslief. Von Dover aus lohnt ein Ausflug in die Bischofsstadt Canterbury oder zum malerischen Schloss Leeds.
Unser Reisetipp »MS AIDAprima«****, 7 Tage »Metropolen ab Hamburg«, ab € 779* (ab 2.7., AIDA Cruises, https://aida.de). Besonderheiten: umweltfreundliches Schiff mit Flüssiggasantrieb, Bade-, Adventure- und Spaßlandschaft mit Bar unter UV-durchlässiger Folie für Schlechtwettertage, kinderfreundlich.
SPITZBERGEN: NORDROUTE FÜR NATURLIEBHABER
Meist werden auf der Hin- oder Rückreise noch einige Häfen in Norwegen angelaufen. Die »Hauptstadt« Spitzbergens Longyearbyen bietet oft die Möglichkeit, ein Schlittenhundecamp zu besuchen – die haarigen Gesellen sind sehr zutraulich und lieben Streicheleinheiten! Auf Island gehen die Ausflüge zu atemberaubenden Wasserfällen und Geysiren, die ihr kochends Wasser hoch in die Luft spucken, oder zu einem Schwefelfeld mit brodelnden Schlammlöchern. Badefreunde kommen in der berühmten »Blauen Lagune« auf ihre Kosten (vgl. Bericht Island in diesem Heft, S. 30).
Unser Reisetipp »MS Mein Schiff 4« ****+, 18 Tage »Norwegen, Spitzbergen, Island II«, ab Bremerhaven, ab € 4.079* (ab 5.7., TUI Cruises, www.meinschiff.com). Besonderheiten: All inclusive, riesiges, gratis nutzbares Spa mit Meerblick-Sauna, 25-Meter-Pool, gute Auswahl an Restaurants (u. a. »Gosch«) plus großes Buffet, exklusiver Bereich für Suiten-Gäste.
GRÖNLAND: BESUCH BEI DEN INUIT
In der Hauptstadt Nuuk gibt’s ein Weihnachtsmann-Postamt und im Museum die 500 Jahre alte Mumie eines Inuit-Kindes. Man lernt viel über das Leben im Eis und die Entwicklung zu einer modernen Gesellschaft mit archaischem Touch. Auch die Gegensätze zwischen Kolonialleben und -geschichte und der natürlichen Lebensart werden sichtbar. Absolut sehenswert ist die 200 km im Durchmesser große Disko-Bucht, die von Eisbergen gesäumt ist: Solche Landschaften gibt es sonst nur in Alaska oder der Antarktis. Auch hier ist man mit bordeigenen Schlauchbooten klar im Vorteil.
Unser Reisetipp »MS Hamburg«***+, 10 Tage »Grönland intensiv«, ab € 2.999* inkl. Flug ab Frankfurt (ab 22.8. und 31.8., Plantours & Partner, www. plantours-partner.de). Besonderheiten: kleines Kreuzfahrtschiff (ca. 400 Passagiere) mit Abendunterhaltung, Lektoren und guter Küche, Zodiacschlauchboote. Grönland für Eilige ohne die lange Schiffsreise von Deutschland aus. Die günstigste Art, mit einem Beinahe-Expeditionsschiff sehr viel zu sehen.
OSTSEE: DAS FLAIR DES BALTIKUMS
Sankt Petersburg wurde von den meisten Anbietern auf unbestimmte Zeit gestrichen. Vorsicht: Eine zu vollgepackte Ostseereise kann bei täglichen Stadtbesichtigungen ganz schön anstrengend werden. Oft wird ein eigentlich nicht notwendiger Seetag eingebaut oder zwischendurch ein Naturziel (z. B. Mariehamn auf den Ålandinseln) angesteuert zum Wandern, Angeln, Kanufahren.
Unser Reisetipp »MS Costa Fasinosa« ***+, 10 Tage Ostsee ab Kiel, ab € 919* (ab 12.7., Costa Kreuzfahrten, www.costakreuzfahrten.de). Besonderheiten: Großes Schiff mit Sport- und Spa-Möglichkeiten, großen Show-Events und mediterranem Flair. Kinderfreundlich. Alle drei baltischen Ziele (Estland, Lettland, Litauen) sind enthalten.